Ich erinnere mich noch genau an einen Herbsttag, an dem ich als junge Frau auf dem Bio-Gärtnerbetrieb an der Kasse stand. Es war kalt, ich hatte Erde unter den Nägeln, und die Apfelsorten stapelten sich in allen Farben auf dem Marktstand. Da war die süße „Jakob Lebel“, die säuerliche „Boskoop“, die leicht nussige „Ontario“. Ein alter Mann kam jeden Samstag, nahm sich Zeit, roch an den Äpfeln, drehte sie in der Hand, wählte mit Bedacht.
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Und heute? Heute stehe ich im Supermarkt, starre auf drei Sorten Designeräpfel – alle gleich groß, gleich glänzend, gleich fade. Da ist nichts mehr mit Duft, nichts mit Charakter. Die schmecken nach Wasser mit Apfelerinnerung. Und wehe, du hast eine Apfelallergie – da fangen die meisten modernen Züchtungen erst richtig an, Probleme zu machen.
Klar, auf den ersten Blick wirkt alles prall gefüllt. Die Supermärkte leuchten uns regelrecht an mit ihrer Überfülle. Mango im Winter, Erdbeeren im Januar, Tomaten rund ums Jahr. Und doch: Es ist eine Mogelpackung. Die Vielfalt, die wir heute sehen, ist keine echte Vielfalt – sie ist eine Illusion. Eine Requisite im Theater der Lebensmittelindustrie.
Der Geschmack von gestern – verloren im Fortschritt von heute
Wenn ich früher mit meiner Oma einkaufen war, dann gab’s im Herbst Birnen. „Gute Luise“, „Gellerts Butterbirne“ oder „Alexander Lucas“ – jede mit ihrem eigenen Charakter. Die „Gute Luise“ war sanft und süß, fast schon höflich im Mund. Die Butterbirne dagegen: weich, voll, fast unanständig zart. Und die Lucas? Eine ehrliche Haut – groß, saftig, etwas derb, aber immer zuverlässig. Heute? Meistens Hartplastik mit Stiel.
Oder Quitten, die die ganze Küche nach Honig und Zitronenparfum duften ließen. Heute? Kein Mensch weiß mehr, wie Quitten roh aussehen.
Was passiert ist? Die Sortenvielfalt wurde wegrationalisiert. In der Kartoffelwelt – und ja, da wird’s richtig absurd – gibt es tatsächlich Patente. Patente! Auf Lebensmittel. Wenn die ablaufen, verschwindet die Sorte aus dem Handel. Weil sie keinen wirtschaftlichen Sinn mehr macht. Kein Witz. Und deshalb stehen wir da und fragen uns, warum die Kartoffeln nur noch wie nasse Servietten schmecken.
Wenn du heute im Handel arbeitest und Ahnung hast – so wie ich früher auf dem Bio-Gärtnerbetrieb – dann tut’s weh. Ich sehe Dinge in den Regalen, die hätte ich früher niemals angeboten. Weil sie nicht reif waren, weil sie schon gammelten, weil sie schlicht nicht gut genug waren. Heute scheint das niemanden mehr zu stören. Hauptsache hübsch. Hauptsache verpackt. Hauptsache haltbar.
Die Macht der Konzerne und die stille Gleichschaltung
Wer heute den Lebensmittelmarkt bestimmt, sind nicht Bauern oder Verbraucher – es sind Großkonzerne. Die entscheiden, welche Sorten produziert werden, was als „Standard“ gilt, und was auf unseren Tellern landet. Und dabei geht es nicht um Geschmack, Nährstoffe oder Vielfalt. Es geht um Haltbarkeit, Lagerfähigkeit, Transporteignung. Punkt.
Ein Apfel, der zehn Tage länger im Regal liegen kann, bringt mehr Geld. Ein Salat, der sich verpacken lässt, ohne matschig zu werden, wird großgezogen – auch wenn er nach absolut nichts schmeckt. Der Preis? Wir essen leere Hüllen. Lebensmittel, die aussehen wie Essen, aber kaum noch Inhalt haben.
Was wir verlieren, ist nicht nur Geschmack – es ist Lebendigkeit. Es ist das, was echte Nahrung ausmacht: Vitalstoffe, Pflanzenpower, Vielfalt. Diese Dinge kann man nicht synthetisieren. Du kannst keinen Brokkoli gentechnisch so verändern, dass er wieder so viel Magnesium hat wie vor 50 Jahren. Der Boden gibt das nicht mehr her. Die Zeit fehlt. Die Pflege fehlt. Und, seien wir ehrlich: Das Interesse fehlt.
Und jetzt?
Tief durchatmen. Ja, ich weiß. All das klingt nach Weltuntergang. Aber das ist es nicht. Es ist der Weckruf. Und es ist eine Einladung. Denn – und das ist die gute Nachricht – wir können was tun. Wir können anfangen, wieder mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Uns zu fragen: Woher kommt mein Essen? Was wurde dafür geopfert? Und wie kann ich wieder näher an die Quelle?
Du musst nicht gleich den Garten umgraben und Kartoffeln anbauen. Aber fang klein an. Geh auf den Wochenmarkt. Such dir einen Hofladen in deiner Nähe. Frage nach alten Sorten. Unterstütze kleine Bio-Höfe. Und wenn du keine findest – frag mich. Ich kenne ein paar, die noch wissen, wie Essen schmecken kann.
Und ja – es ist ein bisschen unbequemer. Es braucht Zeit, manchmal ein paar Euro mehr, manchmal ein bisschen Mut, was Neues auszuprobieren. Aber glaub mir: Der Geschmack ist es wert. Die Nährstoffe sind es wert. Und du bist es sowieso.
Denn am Ende geht’s nicht nur um Essen. Es geht um Lebensqualität. Um Gesundheit. Um das Gefühl, mit der Natur statt gegen sie zu leben. Und um die Hoffnung, dass unsere Kinder wieder wissen, wie eine echte Erdbeere riecht. Nicht nach Aroma. Sondern nach Sonne, Erde, Sommer.
Wenn du bis hierhin gelesen hast – danke. Vielleicht hat’s ein bisschen gezwickt. Vielleicht hast du auch genickt. Vielleicht denkst du gerade: „Genau das habe ich auch schon gespürt.“ Dann bist du nicht allein. Und das ist der Anfang von allem. Lies weiter im Folgeartikel.